Die „Zeitenwende“ als Chance für den Südkaukasus?

Die „Zeitenwende“ als Chance für den Südkaukasus?

Wien / Dasfazit

Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Reinhard Heß

Hinweis: Michael Reinhard Heß ist promovierter und habilitierter Turkologe und seit 2005 Privatdozent und lehrt an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zum Thema Karabach hat er die Bücher „Panzer im Paradies“ (Dr. Köster 2016) und „Karabakh from the 13th century to 1920“ (Gulandot, 2020) verfasst.

Parallelen

Die Essenz der von Olaf Scholz beschworenen „Zeitenwende“ kann man vielleicht als Abschied von einer primär illusions- und hoffnungsbasierten Politik beschreiben. Bis zu jenem schwarzen Tag, an dem Russland seinen Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begann, war die europäische und vor allen Dingen deutsche Politik weitgehend von dem Wunsch geleitet, durch Stillhalten gegenüber der massenmörderischen Strategie Putins den Fortbestand wirtschaftlichen Erfolgs und die scheinbare Stabilität des europäischen politischen Systems aufrechtzuerhalten.

Dieser Wunsch – man könnte ihn auch als eine Mischung aus Drögheit und Gier bezeichnen – determinierte in wesentlichen Teilen der europäischen Politik, Intelligenz und Öffentlichkeit das Bild von Russland. Er trübte allgemein die Fähigkeit, Russland so wahrzunehmen, wie es sich selber durchaus unmissverständlich klar und offen artikulierte und wie es nach einer objektiven Einschätzung seines Verhaltens einzuschätzen gewesen wäre. Der Krieg gegen Georgien, der Abschuss der MH 17 über der Ukraine 2014 und die anschließende Flucht Russlands vor der Wahrheit dieses Verbrechens in ein Gewebe von Lügen sowie die Invasion in der Krim und die Entfachung separatistischen Terrors in der Ukraine wurden auf der europäischen und internationalen Bühne weitgehend unter den Teppich gekehrt.

In gewisser Hinsicht hat der 44-Tage-Krieg von 2020, durch den Aserbaidschan wichtige Teile seiner bis dahin unter fremder Okkupation stehenden Landesteile befreien konnte, eine ähnliche „Zeitenwende“ herbeigeführt. Allerdings geschah dies unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich zugunsten eines Angegriffenen und nicht eines Angreifers.

Nach dem Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan von 1994, der auf die Invasion Aserbaidschans durch armenische Truppen und die Kreation einer separatistischen Pseudo-Entität ähnlich den heutigen sogenannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk gefolgt war, hatte es ein gutes Vierteljahrhundert lang eine Phase eines sogenannten „eingefrorenen Konflikts“ gegeben. Auch wenn in dieser Zeit die Kämpfe entlang der Frontlinie immer wieder aufflammten, was zu zahlreichen Toten und Verletzten führte, stand in dieser Zeit die Suche nach einer Lösung auf dem Verhandlungswege im Vordergrund. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess wurde dabei der Minsk-Gruppe der OSZE zugeschrieben. Doch alle Bemühungen Aserbaidschans, über die Minsker Gruppe und andere Foren sein Recht auf die Wiederherstellung seiner territorialen Souveränität durchzusetzen, führten zu nichts. Erst der 44-Tage-Krieg brachte auf militärischem Wege Bewegung in den scheinbar festgefahrenen Konflikt. Die Geschichte des 44-Tage-Krieges ist somit auch eine Geschichte des Versagens internationaler diplomatischer Bemühungen und die einer Zeitenwende.

Bewegung im armenisch-aserbaidschanischen Verhältnis

Beide Ereignisse – der 44-Tage-Krieg und Russlands Überfall auf die Ukraine – tragen gegenwärtig dazu bei, dass sich das Verhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan in einer Weise fortentwickelt, die man vor diesen beiden Ereignissen wohl für sehr unwahrscheinlich gehalten hätte.

Deutlichster Ausdruck des sich schrittweise vollziehenden Wandels in den Beziehungen zwischen den beiden südkaukasischen Nachbarn sind wohl das Treffen zwischen dem aserbaidschanischen Präsident und dem armenischen Ministerpräsidenten in Brüssel am 6. April und die im Anschluss daran verkündete Absicht zur Schaffung einer bilateralen Kommission zur Regelung von Grenzfragen. Wenn man sich an die legendäre Begegnung Ilham Aliyevs und Nikol Paschinjans auf der Münchener Sicherheitskonferenz von 2020 zurückerinnert, kann man das Brüsseler Treffen wohl als geradezu revolutionären Fortschritt in den Beziehungen beider Länder bezeichnen.

Dass das sich andeutende Tauwetter zwischen den verfeindeten südkaukasischen Nationen nicht nur eine Folge des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine sein dürfte, deuten gewisse politische Entwicklungen an, die es schon vorher gegeben hat. So leiteten Aserbaidschans wichtigster regionaler Verbündeter Türkei und Armenien bereits im Dezember 2021 Schritte zur Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen ein, und eine solche Normalisierung hat in jedem Fall auch Auswirkungen auf das armenisch-aserbaidschanische Verhältnis. In Armenien scheint sich seither die Bereitschaft auszubreiten, im Interesse der wirtschaftlichen und politischen Zukunft des Landes Konflikte und Ressentiments aus der Vergangenheit nicht wieder aufleben zu lassen.

Zukunft und Vergangenheit

Wie sich die Zukunft des Verhältnisses zwischen Armenien und Aserbaidschan gestalten wird, hängt indes zu einem erheblichen Ausmaß auch direkt vom Ausgang des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine ab, genauer gesagt, von der Frage, welche Rolle Russlands mittelfristig auf der internationalen politischen Bühne und somit auch im Südkaukasus spielen wird.

Gegenwärtig scheint Russland seine traditionelle Rolle als bestimmende Macht in den Beziehungen der südkaukasischen Staaten weiterhin spielen zu wollen. Dies zeigte sich etwa am 25. März, als der russische Verteidigungsminister Schojgu mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Zeit fand, seinen aserbaidschanischen Amtskollegen Hasanov anzurufen. Vorausgegangen waren am Tag zuvor Zusammenstöße zwischen der aserbaidschanischen Armee und bewaffneten Separatisten in Karabach.

Allerdings kann man aus den Entwicklungen der letzten Wochen wohl auch einen gewissen Verlust diplomatischen Einflusses durch Russland herauslesen. Wichtige diplomatische Begegnungen im Umfeld des armenisch-aserbaidschanischen Verhältnisses fanden ohne russische Beteiligung statt. Während sich Vertreter Armeniens und der Türkei beispielsweise noch am 14. Januar in Moskau trafen, um über die Annäherung ihrer beider Länder zu verhandeln, wurde ein Folgetreffen am 24. Februar in Wien durchgeführt, und am 16. März folgte die noch wichtigere Begegnung des türkischen und des armenischen Außenministers in Antalya.

Eine Schlüsselrolle für die künftige politische Entwicklung der Region dürfte Armenien zukommen. Das Land steht gegenwärtig nicht nur unter Druck, weil durch eine Belastung seiner Beziehungen zu den wirtschaftlich und militärisch überlegenen Nachbarn Türkei und Aserbaidschan mittelfristig eine Bedrohung für seine Entwicklung oder sogar seinen Fortbestand sein könnte, sondern auch, weil die USA und ihre westlichen Verbündeten es aufgrund seiner Nähe zu und Abhängigkeit von Russland im Visier haben. Sie haben das Land unlängst vor zu starker militärisch-geheimdienstlicher Kooperation mit Russland sowie dem Unterlaufen der westlichen Sanktionen gegen Moskau gewarnt.

Aufgrund der Unwägbarkeiten der gegenwärtigen geopolitischen Situation ist es schwer abzusehen, welche Richtung die armenische Politik einschlagen wird. Im Inneren des Landes und in der mächtigen armenischen Diaspora gibt es immer noch starke und laute Stimmen, die das Verhältnis zur Türkei und Aserbaidschan nicht von realpolitischen, auf die Gegenwart und Zukunft bezogenen Überlegungen, sondern im Wesentlichen im Rückblick auf die Vergangenheit gestalten möchten. Doch mit dem Brüsseler Treffen scheint Paschinjan eine andere Richtung einzuschlagen.

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